Leben und Leben lassen auf einer einsamen Insel

Das war eine wunderbare Erfahrung! (Genossin Yukun)

„Some Desert Island Stories”, ein paar Geschichten von der einsamen Insel, erzählt die Politologin Susan Strange am Anfang ihres Buches States and Markets aus dem Jahr 1988. Eine Gruppe Schiffbrüchiger strandet auf einer einsamen Insel und kämpft ums Überleben. Nachdem die erste Nacht überstanden ist, erkunden sie ihre neue fremde Heimat, sammeln Obst, stellen Fallen, fangen Fische, errichten Häuser und beginnen, Gesellschaften aufzubauen: eine autoritär-diktatorische Gesellschaft, in der einer alle Entscheidungen trifft und die anderen folgen; eine egalitär-sozialistische Gesellschaft, die als basisdemokratische Kommune lebt und in der jeder tut, was er kann, und bekommt, was er braucht; und eine liberal-demokratische Gesellschaft, in der jeder seiner eigenen Wege geht, seinen Nutzen maximiert und nur allgemeine Probleme öffentlich geregelt werden.

Die Geschichten von Susan Strange sind zur Grundlage für das Inselspiel geworden, das in der politischen Bildungsarbeit in vielen Varianten gespielt wird. Auf der Insel verhandeln die Spielenden, wie sie zusammen leben wollen, formulieren Gesetze, verteilen Arbeit und Ressourcen, geben und nehmen Macht und erleben, was Politik ist und was politisches Handeln bedeutet. Eine Spielanleitung mit Material findet sich zum Beispiel in diesem Heft der Zeitschrift Politik & Unterricht.

Meine Studierenden an der Südwest Jiaotong Universität in Chengdu haben sich im Wintersemester 2021/22 in ihrem dritten Studienjahr im Kurs Landeskunde auf die Reise begeben, jeder mit einem fiktiven Beruf und drei Gegenständen im Gepäck. Ihre Erfahrungen auf der einsamen Insel haben sie anschließend aufgeschrieben. Eine Auswahl ihrer gelungenen Texte ist hier abgedruckt.

In der autoritär-diktatorischen Gruppe fällt Jingyi die Rolle der Diktatorin zu. Sie schreibt:

Es war ein ungewöhnlicher Tag, als ich wegen eines unglücklichen Unfalls mit meinen Gruppenmitgliedern auf einer einsamen Insel strandete. Alle waren sehr nervös. […] [Rettung war nicht in Sicht], deshalb mussten wir so schnell wie möglich Wasser und Nahrung finden und Hütten bauen, um hier zu überleben. Weil jeder mir vertraute und mich unterstützte, wählten sie mich als Führer unserer Gruppe. Es war eine große Verantwortung für mich […]. Ich musste sorgfältig darüber nachdenken und viele Dinge entscheiden. Um Effizienz zu garantieren, […] [wies ich] jedem eine Aufgabe entsprechend seinem Beruf und seiner Expertise zu. Damit konnte jeder sein Bestes geben und zu einem besseren Leben beitragen. Zweitens wurden alle Arbeitsprodukte von mir entsprechend Ihrer Arbeitsbelastung und Schwierigkeit verteilt. Darüberhinaus beschloss ich, alle von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten zu lassen. Nach Sonnenuntergang mussten alle zurück zum Camp und ruhen, um die Sicherheit zu garantieren. Dieses „Managementsystem” klingt autokratisch, aber es funktioniert besonders effizient in dieser besonders schwierigen Situation. (Diktatorin Jingyi)

Jingyi ist sich ihrer Machtfülle und Verantwortung für das Überleben der Gruppe bewusst. Arbeitszwang und Ausgangssperren rechtfertigt sie vor sich selbst und ihren Untertanen mit Wörtern wie Effizienz, Sicherheit und Management. Sie selbst fühlt sich mit der Führung der Gruppe aber überfordert: „Ich fühle mich sehr müde. Ehrlich gesagt, ist es für mich ohne Führungserfahrung und -natur nicht ganz leicht, eine Führungskraft zu sein. […] Wenn wir nur bald gerettet werden!”

Ihre Untertanen erleben Jingyis Herrschaft ganz anders, zum Beispiel Yifei:

Die Sonne schien mir ins Gesicht, und als ich die Augen öffnete, lag ich auf einer Insel mitten im Nirgendwo. Ich bin aufgewacht und habe schnell nachgesehen, was ich noch bei mir hatte. Zum Glück hatte ich mein Messer, mein Feuerzeug und meine Taschenlampe dabei. Ich stand auf und machte mich auf den Weg zum höchsten Punkt der Insel, damit ich sehen konnte, wo ich war. […] Nach einigen Tagen dieses Lebens fand ich heraus, dass es einige Überlebende auf der Insel gab, darunter Krankenschwestern, Köche und so weiter. Ich schloss mich ihnen an, und wir taten alle, was wir konnten. Leider schien ich mich in einer diktatorischen Gesellschaft zu befinden, in der es den Machthabern zu gefallen schien und ich in meiner Freiheit eingeschränkt war, was noch schlimmer war als das, was Robinson widerfuhr. […] Die Flucht von dieser schrecklichen Insel und die Beendigung dieser schrecklichen Reise haben mir gezeigt, dass es nichts Wichtigeres gibt als Freiheit. (Untertanin Yifei)

Andere arrangieren sich mit dem Leben auf der Insel, etwa Zefan, die sich in einer systemkonformen Identität als fleißige Arbeiterin und Privatmensch einrichtet:

An einem ganz normalen Tag hatte ich das Pech, auf einer einsamen Insel anzukommen. Aber zu meinem Glück gab es genug Unglückliche wie mich, so dass […] wir uns gegenseitig helfen konnten […]. Ich hatte genug Vitamin C, Wasser und komprimierte Kekse für viele Tage dabei (hier sieht man, dass ich wirklich stark bin, weil ich so viel auf dem Rücken tragen kann, was ein sehr wichtiger Vorteil beim Überleben auf einer einsamen Insel ist). Das Wichtigste, was ich hier gelernt habe, ist, positiv zu bleiben und zu lernen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Zum Beispiel: Obwohl ich hier die Befehle des Stammesführers befolgen muss, bleiben mir Sorgen erspart. Hier ist alles primitiv, aber dafür bin ich nicht dem ganzen Druck der modernen Gesellschaft ausgesetzt. Kurz gesagt, um eine chinesische Redewendung zu verwenden, bedeutet es, „mit dem zufrieden zu sein, was sich einem bietet”. […] (Untertanin Zefan)

In der egalitär-sozialistischen Gruppe scheinen sich dagegen alle Mitglieder wohl zu fühlen. Yukun beschreibt ihre Erfahrungen auf der Insel so:

Zuerst waren wir ganz verwirrt und wussten nicht, wie wir überleben konnten. […] Glücklichweiser arbeitete ich mit meinen Partnern zusammen […] Jiaqi hatte etwas zu trinken und zu essen mitgebracht und so konnten wir die erste Nacht überleben. […] Im Lauf der Zeit formulierten wir viele Regeln. Jeder hat das Recht auf Leben, körperliche und seelische Unversehrtheit. Jeder hat das Recht abzustimmen und jeder ist gleich. Jeden Tag arbeiten wir acht Stunden und alle Früchte unserer Arbeit gehören allen. Aber wer mehr arbeitet, bekommt auch mehr Lebensmittel. […] Das alles verdanken wir unserer Zusammenarbeit. […] (Genossin Yukun)

Auch aus den Berichten der anderen Mitglieder ist ein starkes Gruppengefühl und Vertrauen ineinander herauszuhören. Außerdem betonen alle Mitglieder der egalitär-sozialistischen Gruppe die Bedeutung der Arbeitsteilung für ihre Gesellschaft, etwa Hanwen:

Als ich auf einmal von kaltem Seewasser geweckt wurde, konnte ich mich nur noch an einen heftigen Sturm und ein fürchterliches Gewitter erinnern. Aber wo war ich? Keine Ahnung. Große Angst und die eisige Kälte packten mich. […] Bleib ruhig. Jetzt habe ich nichts dabei als eine Tüte mit gepressten Keksen, eine Flasche Mineralwasser und mein kaputtes Handy. Zum Glück fand ich meine Partnerinnen auf dem Sandstrand. Wir mussten alles um uns herum, Obst, Baum usw. ausnutzen, um auf der Insel zu überleben. Wir haben entschieden, dass wir alle gleiche Rechte haben, den Erfolg unserer Arbeiten zu genießen. Ich bin Baumeister, daher muss ich eine Hütte für alle aufbauen. (Genosse Hanwen)

Oder Jingyi:

Es ist tatsächlich ein unvergessliches Erlebnis, dass wir schon über einen Monat auf dieser Insel geblieben sein. Wir sind zu siebt und haben durch die Zusammenarbeit eine schwierige Zeit überlebt. […] Wir alle sind gleich und alles soll mittels Abstimmung bestimmt werden. Alles gehört allen, d.h. jeder macht für alle das, was er gut kann, und dann bekommt er genug Lebensmittel. Der Baumeister Hanwen baute z.B. eine warme Schlafstube für uns alle, während er Kokosmilch von Yukun, die eine Axt hatte, bekam. […] Es ist zwar nicht leicht, am Leben zu bleiben, aber ich fühle mich jetzt glücklich und ruhig, weil jeder von uns fleißig seine Arbeit erledigt und wir uns umeinander kümmern. (Genossin Jingyi)

Auch die Bürgerinnen der demokratisch-liberalen Gruppe haben ein funktionierendes und harmonisches Gemeinwesen aufgebaut, das aber auf individuelle Freiheit gründet und die Privatsphäre schützt, wie Ruoyi beschreibt:

Nachdem ich einen schrecklichen Tsunami überlebt hatte, fand ich mich beim Aufwachen auf dieser abgelegenen Insel. Ich ging ängstlich vorwärts und schließlich hörte ich in der endlosen Stille endlich vertraute Sprache. Da waren andere Menschen, die auf dieser Insel gestrandet waren. Unter ihnen waren eine Medizinstudentin, eine Fischerin, eine Wissenschaftlerin, eine Köchin, eine Journalistin und sogar eine Killerin. Wir fragten nicht viel nach den Erfahrungen der anderen. Wir machten einfach das, worin wir gut waren. Wir wollten überleben. […] Über wichtige Dinge werden wir abstimmen, und auf Fehler können wir frei hinweisen – das ist ganz anders als in meinem alten Leben als Matrosin. Der Kapitän hat immer auf die Matrosen herabgeschaut. Auf dieser Insel teilen wir alle öffentlichen Ressourcen und die Privatsphäre wird vollständig respektiert und geschützt. […] [Aber deshalb] fühle mich [manchmal] einsam. (Bürgerin Ruoyi)

Die liberal-demokratische Gruppe ist sogar in der Lage, eine Killerin von ihrem alten Beruf zu erlösen und in die Gesellschaft zu integrieren. Die ehemalige Auftragsmörderin ist wohl die einzige, die gern auf der Insel geblieben wäre:

Die Erfahrung auf der Insel hat mir ein gutes Gefühl gegeben. Da ich von Beruf Auftragskillerin bin, habe ich jeden Tag eine Menge [zu tun]. Die Leute, die ich getötet habe, waren allesamt Bösewichte. Aber wissen Sie, das Töten ist psychologisch anstrengend, und es ist lange her, dass ich mich entspannen konnte. Jetzt war ich mit sieben anderen Menschen wegen eines Unfalls auf einer Insel gestrandet, und das Leben dort hat mir endlich Entspannung gebracht. […] Der Blick auf die Insel war wunderschön, mit den Wellen, die an das Ufer schlugen. Man konnte gar nicht anders, als über das weite Meer zu rufen. Jeder von uns hatte eine klare Aufgabe und jeder von uns hatte eine Rolle zu spielen. Ich hatte eine Pistole dabei, also fiel mir die Aufgabe der Jagd zu. Es war ein Kinderspiel für mich, denn genaues und schnelles Schießen ist einfach mein Ding. […] Manchmal bin ich früher mit der Jagd fertig (denn wir haben die Regel, nicht zu viel zu jagen, [um die Tiere zu schützen]). Dann helfe ich beim Kochen, was meine Kochkünste verbessert hat. Wir lebten ein relativ freies Leben ohne allzu viele Zwänge, bei dem Arbeit und Ruhezeiten frei verteilt waren. In meiner Freizeit unterhalte ich mich gerne mit der Medizinstudentin, weil ich etwas über Medizin lernen möchte. So kann ich mich sofort retten, wenn ich bei einem Auftrag verletzt werde. […] Ach, wenn ich für immer auf der Insel bleiben könnte! Dann müsste ich mich nie mehr in Gefahr begeben. (Bürgerin Ziyi)

Das Leben auf der Insel verlangt viel von den Spielenden. Sie müssen Antworten auf wichtige Fragen finden. Wem gehört was in der Gruppe? Welche Grundrechte haben Menschen, Tiere und Natur? Welche Regeln gelten für Männer, Frauen und Kinder? Wer darf in die Gruppe einwandern? Konfrontiert mit gesellschaftlichen Herausforderungen, reagieren die Gruppen unterschiedlich. In der autoritär-diktatorischen Gruppe etwa verbietet die Herrscherin Einwanderung aus den anderen beiden Gruppen, um ihre Macht nicht zu gefährden. In die egalitär-sozialistische Gruppe darf nur einwandern, wer einen dringend benötigten Beruf ausübt. Die sozialistische Gruppe ist auch die einzige Gruppe, die mit einer Diplomatin Kontakt zu den anderen Gruppen aufrecht erhält. Auch mit Minderheiten gehen die Gruppen unterschiedlich um. Die Bürgerinnen der liberal-demokratischen Gruppe zum Beispiel stimmen über die Einführung einer gesellschaftlichen Hierarchie ab, in der die weibliche Mehrheit Privilegien genießt und einen höheren sozialen Status einnimmt als die Männer. Die Bürgerinnen bestehen auf ihr Gesetz, auch als Genosse Hanwen, der den überall begehrten Beruf eines Baumeisters ausübt, daraufhin von einem Wechsel in die demokratische Gruppe absieht. …

Das Leben auf der Insel endet mit der Rettung aller Gestrandeten. Sie kehren in ihre alte Heimat zurück und kommen ins Nachdenken über die gemachten Erfahrungen. Wie war die Erfahrung auf der Insel? Wie habe ich mich gefühlt? Was habe ich auf der Insel erfahren oder gelernt, das ich in meine alte Heimat mitnehmen will?1 Das schönste Fazit zieht Genosse Hanwen aus der egalitär-sozialistischen Gruppe:

Ich bestand immer auf die Hoffnung, obwohl uns so eine schreckliche Not bedrohte. Auf die Hoffnung zu bestehen, ruhig zu bleiben und mit Partnern zusammenzuarbeiten, das ist der Grund, dass ich am Ende überleben konnte. (Genosse Hanwen)


1 Diese Textteile sind, obwohl auch fiktional und ohne Bezug zu real existierenden Gesellschaften, entfernt.

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